Das Jahr 1259

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Das Jahr 1259

Beitrag von admin »

Chronik des Jahres unseres Herrn 1259
Aufgezeichnet von Bruder Stanisław, Schreiber im Kloster der Heiligen Jungfrau Maria

Vom Untergang der Mächtigen und dem Aufstieg der Schatten

Im Jahre unseres Herrn 1259, da Kaiser Friedrich bereits drei Jahre tot war und die Welt sich in Unordnung befand, geschahen zu Krakau Dinge, die ein gottesfürchtiger Chronist nur mit zitternder Hand niederschreiben mag. Was zu Jahresbeginn noch als Hoffnung erschien, ward zum Jahresende zur Gewissheit des Verderbens.

Von dem Fall der Tęczyński und ihrem jähen Ende

Die Familie Tęczyński, welche in den vergangenen Jahren durch Handel und Münze zu großer Macht gelangt war, fand in diesem Jahre ihr Ende auf eine Weise, die alle Bürger in Schrecken versetzte. Ihr Handelshaus am Marktplatz, das noch im Wonnemonat Mai wie eine Burg des Wohlstandes dastand, ward durch innere Zwietracht und den plötzlichen Tod des Familienhauptes Bolesław erschüttert.

Dieser Bolesław, ein Mann von großer Leibesfülle und noch größerem Geiz, fand seinen Tod bei einer Jagd auf eine Weise, die viele Zungen zum Munkeln brachte. Denn es ist ungewöhnlich, dass ein erfahrener Jäger von seinem eigenen Speer durchbohrt wird, und noch ungewöhnlicher, dass keine Zeugen zugegen waren, obwohl die Jagdgesellschaft groß war.

Nach seinem Tode entbrannten unter den Erben heftige Streitigkeiten, und das Bündnis mit dem hochwürdigen Bischof Tomasz zerbrach wie ein morscher Ast. Im Sommer kam es zu offenen Fehden mit den Brüdern Wierzynek, und schließlich ward das Kontor der Tęczyński von einer Volksmenge geplündert und niedergebrannt. Doch die Augenzeugen berichteten von seltsamen Gestalten unter den Randalierern - Männer mit fremden Sprachen und Waffen von einer Güte, wie sie kein einfacher Bürger besitzt.

Von den Wierzynek und ihrem dunklen Handel

Die Brüder Wierzynek errichteten während dieser Wirren ihr eigenes Reich des Handels. Ihr neues Lagerhaus am Stadtrand gleicht mehr einer Festung denn einem Kaufmannsgebäude, mit hohen Mauern und wenigen Fenstern. Die Bürger berichten von ganzen Wagenladungen, die dort verschwinden, während auf dem Dach des Nachts merkwürdige Feuer lodern, die weder Holz noch Kohle zu verzehren scheinen.

Die Brüder zahlen ihre Geschäfte mit Münzen, die nicht aus unseres Königs Prägestätten stammen, sondern aus fernen östlichen Landen. Manche behaupten, sie hätten einen Handel mit Mächten geschlossen, die kein christlicher Kaufmann je anrühren sollte - doch wer solches sagt, spricht es nur im Flüsterton und niemals bei Tageslicht.

Vom großen Exodus der Edlen

Im Sommer dieses Jahres geschah etwas, das alle Bewohner Krakaus in Erstaunen versetzte: Viele der vornehmsten Familien verließen die Stadt, und zwar auf eine Weise, die mehr einer Flucht denn einem geordneten Aufbruch glich. Sie gingen lautlos, ohne Fanfaren oder Geleit, mit kleinen Gespannen und wenig Gepäck.

Einige Ritter verkauften ihr Land für Preise, die einem Spott gleichkamen, andere hinterließen ihre Häuser mit leeren Truhen und offenen Türen. Der Wawel, unser königlicher Hügel, wirkte wochenlang wie von einem Fluch befallen - das Königshaus schwieg, die Kanzlei blieb verschlossen, und nur die Wachen gingen ihre gewohnten Runden.

Ein Gelehrter, dessen Namen ich nicht nennen will, schrieb an den Rand eines Pergaments: "Sie wissen es. Sie gehen, weil sie wissen, was kommt." Was er damit meinte, vermag ich nicht zu sagen, doch die Worte lassen mich nicht los.

Von Bischof Tomasz und seinem Kampf gegen die Finsternis

Der hochwürdige Bischof Tomasz, ein Mann von großer Frömmigkeit und noch größerem Mut, versuchte im Frühsommer, der um sich greifenden Gottlosigkeit Einhalt zu gebieten. In einer Predigt, die alle Anwesenden erschaudern ließ, verfluchte er die "Götzendiener aus den Sümpfen" und ließ den Kult des sogenannten Jakub Erleuchteten ächten.

Dieser Jakub, ein Mann von niederer Herkunft, der behauptete, Visionen von Engeln zu empfangen, hatte viele Anhänger unter dem einfachen Volk gefunden. Seine Lehren waren häretisch und gefährlich, voller Irrlehren über das Jenseits und die Macht der Toten. Er wurde öffentlich verbrannt, doch seine letzten Worte gingen im Wind verloren, und die Glut seiner Bewegung blieb unter der Asche bestehen.

Im Herbst verschwand Bischof Tomasz spurlos. Seine Kathedrale blieb drei Nächte lang ohne Licht, und die Gläubigen knieten vor verschlossenen Türen. Seither wagte sich kein Priester mehr an die Kanzel, um zu predigen.

Von den Rittern des heiligen Florian

Die Ritter des Ordens vom heiligen Florian, die ihre Basilika außerhalb der Stadtmauern haben, verschanzten sich hinter ihren Mauern wie Belagerte. Niemand weiß, was sie dort trieben, doch als im Dezember die Feuerglocken läuteten, waren sie es, die sich auf die Wehrgänge stellten und dort bis zum bitteren Ende verharrten.

Ihr Abt Piotr wurde zuletzt dabei gesehen, wie er ein Manuskript an einen jüdischen Gelehrten übergab. Das Pergament war mit Zeichen beschrieben, die keiner der Anwesenden zu lesen vermochte, und die Worte, die dabei gewechselt wurden, waren in einer Sprache, die weder Deutsch noch Polnisch noch Latein war.

Von den Vorbereitungen zum Krieg und der nahenden Gefahr aus dem Osten

Schon zu Ende des vergangenen Jahres 1258 erreichten uns beunruhigende Nachrichten aus dem Königreich Galizien-Wolhynien. König Daniel von Galizien war von den Mongolen unter General Boroldai bezwungen worden und musste sich deren Forderungen beugen. Seine Truppen wurden gezwungen, sich den Mongolen anzuschließen, und bald schon sprach man von einem gewaltigen Heer von 30.000 Mann, das sich gegen unser Kleinpolen wandte.

Im Winter begannen die Vorbereitungen zur Verteidigung unserer Stadt. Die Stadtmauern wurden verstärkt, Vorräte gesammelt und Wachen verdoppelt. Doch die Arbeiten wurden bald wieder aufgegeben, als ob eine unsichtbare Hand die Bürger von ihrem Werk abhielt. Die Piastenfürsten schienen unentschlossen, und manche sagten, sie hätten bereits heimlich Gesandte zu den Mongolen geschickt.

Die Angst kroch durch die Gassen wie ein kalter Nebel. Handwerker vergruben ihre Schätze, Kaufleute sandten ihre Waren in sichere Verstecke, und die Mütter hielten ihre Kinder näher bei sich. Im Herbst mehrten sich die Zeichen: Flüchtlinge aus dem Osten berichteten von brennenden Dörfern und verlassenen Höfen. Die Mongolen kamen näher, und alle wussten, dass die Zeit der Prüfung nahte.

Am Ende des Jahres standen die Horden bereits an unseren Grenzen, bereit, über das Land zu fallen wie die Plagen Ägyptens.

Von den verschwundenen Kindern

Die stummen Kinder, die schon im vergangenen Jahr die Gemüter bewegten, verschwanden erneut - diesmal alle gemeinsam, aus verschlossenen Räumen, trotz der Wachen, die ihre Eltern aufgestellt hatten. Zurück blieben nur seltsame Knoten aus Haar und Zweigen, die an den Fenstern hingen.

In den Tagen danach wurde ganz Krakau von einem Flüstern durchzogen. Worte, die keiner verstand, die aber in den Mauern zu bleiben schienen, auch wenn alle Menschen längst gegangen waren. Manche behaupteten, die Steine selbst würden sprechen.

Von den letzten Zeichen vor dem Sturm

Im Oktober geschah etwas, das alle Gläubigen in Furcht versetzte: Die Glocken von Sankt Adalbert, Sankt Florian und Sankt Katharina verstummten gleichzeitig. Die Türmer bemerkten nichts davon und sprachen später von Träumen, in denen sie stürzten, fielen und flogen.

Ein Komet wurde über den Karpathen gesichtet - oder etwas, das dafür gehalten wurde. Am selben Tag erreichten uns Berichte von großen Bränden im Osten, die nicht von Menschenhand gelegt waren. Der Himmel war rot wie das Wachs, das von Altarkerzen tropft, und die Vögel flogen in verkehrter Richtung.

Am 17. Dezember erreichten die ersten Flüchtlinge Krakau - blutüberströmt, gezeichnet von Schrecken, die sie nicht zu benennen vermochten. Drei Tage später sah man Rauch am Horizont aufsteigen.

Möge Gott uns gnädig sein in der kommenden Zeit, denn die Prüfungen, die er uns auferlegt, sind schwerer, als ein Menschenherz ertragen kann.

Heute am 21. Dezember schreibe ich wohl meine letzten Zeile....[die Handschrift bricht ab und dann nur noch zwei Worte] Sie kommen!
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