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[1260] Schweigender Grund [Agnellina, Bogdan]
Verfasst: Do Jul 10, 2025 7:11 am
von Bogdan
Die Nacht war trocken.
Kein Tau auf den Halmen.
Kein Atem in der Luft.
Bogdan ging voraus.
Schweigend.
Nur seine Silhouette bewegte sich,
als würde selbst sein Schatten zögern.
Der Weg war frisch begangen.
Wagen- und Hufspuren führten heran,
doch keine führten wieder fort.
Nur Hufspuren entfernten sich –
unruhig, kreuzend,
als wäre etwas in Eile gewesen.
Sie passierten einen niedrigen Weidezaun.
Am Tor hing ein Seil,
abgerissen.
Frisch.
Die Rinde eines Pfostens war abgeschabt –
als hätte ein Tier sich befreit.
Oder jemand gezerrt.
Der Hof war still.
Zu still.
Kein Insekt.
Kein Vogelruf.
Nicht einmal ein Hauch von Wind.
Die Häuser standen noch.
Schief, aber nicht verfallen.
Fensterläden geöffnet.
Ein Eimer mit verklebtem Wasser unter einem Rinnsal
- das vom Brunnen herunter ran.
Ein Trog mit alten Resten.
Ein leerer Hühnerstall.
Alles wirkte,
als hätte jemand vor Tagen noch hier gelebt.
Und sei dann –
verschwunden.
Bogdan blieb stehen.
Sein Blick ruhte auf dem Boden vor dem Brunnen.
Der Boden war aufgerissen.
Nicht von Werkzeug.
Von innen nach außen.
Trocken, bröselig, rötlich wie Lehm –
doch darunter:
eine helle, pulvrige Schicht.
Ausgesogen.
Wie Staub nach Glut.
Kein Laut.
Keine Eule.
Nicht einmal der Ruf eines fernen Tieres.
Nur der Hof,
und seine Stille.
Etwas hatte ihn geleert.
Nicht nur an Menschen.
An Leben.
Re: [1260] Schweigender Grund [Agnellina, Bogdan]
Verfasst: Do Jul 10, 2025 2:19 pm
von Agnellina
Agnellina sah anders aus als gewohnt. Ein Kleidungswechsel machte viel in ihrer äußeren Erscheinung her. Sie trug eine grobe, braune Tunika, Hosen und lederne Schuhe. Mehr Bewegungsfreiheit und bessere Anpassung an den Wald. Auch ihr Haar war nicht wie üblich von einem züchtigen Kopftuch bedeckt, sondern frei sichtbar und grob auf Schulterhöhe abgeschnitten.
Eine umgehängte Jagdtasche gab ihr Stauraum für nützliche Kleinigkeiten. Bogen und Pfeile führte sie mit sich, ein Messer hing an ihrem Gürtel.
Sie folgte Bogdan ohne Fragen zu stellen und ließ die Eindrücke auf sich wirken. Am Brunnen sah sie sich den Eimer mit dem abgestandenen Wasser näher an. Sie hob ihn hoch und schaute mit dem aufmerksamen, hellen Blick, der ihrem Blut zu eigen war, nach Asseln und anderem Getier, welches sich gewöhnlich unter solchen dunklen, feuchten Fleckchen tummelten.
Danach wandte sie sich der aufgerissenen Bodenstelle zu, zu der Bogdan sie geführt hatte. Nach einem fragenden Blick berührte sie den Boden. Sie befühlte und roch an den Erdkrümeln in ihrer Hand.
"Nur hier am Brunnen aufgerissen?"
Re: [1260] Schweigender Grund [Agnellina, Bogdan]
Verfasst: Do Jul 10, 2025 2:39 pm
von Bogdan
Da war nichts, keine Assel, kein Wurm.
Der Boden unter dem Eimer war staubtrocken,
auch wenn dieser offensichtlich nicht ganz dicht war.
Wo ein Fleck von Wasser sein sollte, war nur Staub.
Dann ein paar Meter weiter, ein Zeichen.
In den Boden geritzt.
Ein Kreis.
Etwa zwei Schritt breit.
Durchzogen von wellenartigen Linien.
In der Mitte ein V.
Gezogen mit zwei Strichen.
Drum herum lagen sauber angeordnet die Hühner.
Die Hälse verdreht.
Nichts hatte sie gefressen.
Nicht mal eine Fliege umschwirrte die Kadaver.
Aus Richtung des Zeichens, trat ihr ein schwerer eisenartiger Geruch in die Nase.
Bogdan nickte auf ihre Frage.
„Hab den Hof gestern erst entdeckt, dachte wir erkunden ihn Gemeinsam.“
Er deutete auf das Zeichen.
„Ohne das V ist es ein Schutzzeichen.
Eines das Wassergeister bindet.“
Sein Mund verzog sich angewidert.
„Mit dieser Modifikation, scheint es eine Umkehrung zu sein.
Etwas das die Geister austreibt.“
Re: [1260] Schweigender Grund [Agnellina, Bogdan]
Verfasst: Do Jul 10, 2025 2:57 pm
von Agnellina
"Es ist ungewöhnlich für einen Hof, irgendwelche Zeichen dort zu ziehen, wo ständig jemand durch trampelt. Glauben hat seinen Platz, aber dieser hier erscheint mir unpassend. Da war sich jemand sicher, dass niemand drauf tritt."
Sie suchte aufmerksam nach etwas kleinem am Boden.
Agnellina hatte keine Ahnung von Zauberei, doch sie war vertraut mit vielen Geschichten, welche die Welt erklärten. Und Wilen starben, wenn sie auch nur ein Haar verloren.
"Siehst du irgendwo ein Haar?"
Schließlich arbeitete sie sich bis zum Zeichen vor und nahm sich die Hühner vor. Sie nahm eines hoch und sah sich das auf den ersten Blick intakte Gefieder an. Dann nahm sie ihr Messer und öffnete das Tier, um zu sehen, ob es noch blutig war.
Re: [1260] Schweigender Grund [Agnellina, Bogdan]
Verfasst: Fr Jul 11, 2025 6:43 am
von Bogdan
Der Alte nickte.
„Als der Feind den Hof erreichte, müssen die Bewohner schon geflohen sein.“
Sein Blick fand das Haupthaus des Hofes.
„Die Familie Borowiec lebte hier schon, da war ich noch ein Halbwüchsiger.“
Sein Blick starrte grimmig in die Dunkelheit.
„Hab draußen, auf dem Feld, einen ihrer Söhne entdeckt.
Von einem Pfeil des Feindes niedergestreckt.“
Wut stand in den glühenden Augen des Alten.
„Die Schweinehunde waren schon weg.
Sind mir entwischt.“
Es war ihm anzusehen, das ihn das Ganze mitnahm.
Als Agnellina ein Huhn nach oben nahm, roch sie das dünne Blut des Tieres. Es war noch wo sich befinden sollte, auch wenn die Verwesung langsam einsetzte.
Der metallische Geruch in der Luft, der irgendwo vom Boden auszugehen schien, kam aber von einer anderen Stelle.
Re: [1260] Schweigender Grund [Agnellina, Bogdan]
Verfasst: Fr Jul 11, 2025 7:56 am
von Agnellina
Sie schwieg eine ganze Weile bewusst oder in der Suche nach angemessenen Worten.
„Bogdan…“, entgegnete sie leise. „Das ist schrecklich.“, sagte sie mit gefasstem Ton und ihr Blick zeigte Mitgefühl.
Es gab nichts wirklich Tröstendes zu sagen. Körperlich hielt sie sich zurück. Nähe bei Raubtieren war schwierig - auch unter Geschwistern, zumal man sich noch nicht wirklich kannte. Bei einem Menschen war es leichter Trost zu spenden.
„Es ist noch schwerer, wenn man sie kennt. Wenn du möchtest, helfe ich dir beim Begraben - oder hast du schon?“
Agnellina stieg nicht auf sein spürbares Bedürfnis nach Rache ein.
Sie verzog das Gesicht, als sie den süßlichen Geruch des geronnenen Blutes und das gärige Fleisch wahrnahm. Totes Blut, vergehendes Fleisch. Sie wusste, dass das zum Siechtum führte. Lebende wie Untote. Gangrel verendeten nicht daran, aber die Zeit mit schlechten Blut war ebenso wenig ein Vergnügen wie eine Krankheit als Mensch.
Sie sah sich um. Es gab genügend Kleinholz und Späne wären rasch gemacht.
„Ich würde die Kadaver gern verbrennen. Weiß nicht, ob das was bringt. Es heißt Feuer soll reinigen und vielleicht frischt die Asche den Boden auf.“
Re: [1260] Schweigender Grund [Agnellina, Bogdan]
Verfasst: Fr Jul 11, 2025 8:45 am
von Bogdan
Der Alte nickte stumm.
„Es ist nicht zu ändern.
Oben in Iwanowice haben sie ganze Höfe niedergebrannt.“
Die Anspannung blieb und auch das Lächeln fand nicht zurück in sein Gesicht.
„Einige, die ich beim letzten Mal retten konnte, hat es dieses Mal erwischt.“
Neben Trauer, spürte sie weniger Rachegelüste, als Resignation.
„Ja, verbrenn sie, dass wird nicht schaden.
Wir müssen auch das Zeichen zerstören.
Und es gibt noch etwas anderes das ich dir zeigen möchte.“
Er zeigte in gerader Linie an Brunnen und Symbol vorbei,
auf einen kleinen Apfelbaum,
mit einem vielleicht oberarmbreiten Stamm,
den die Plünderer bei ihrem Angriff offenbar umgestürzt hatten.
Der Blick voller Ekel.
„Von dort kommt der Geruch!“
Re: [1260] Schweigender Grund [Agnellina, Bogdan]
Verfasst: Fr Jul 11, 2025 10:26 am
von Agnellina
Mit bebenden Nasenflügeln witterte sie erneut. Keine hübsche Angewohnheit, zumal ihr Geruchssinn kaum besser als der einer Sterblichen war. Nur konzentrierte sie sich stärker auf die Gerüche in diesem Augenblick. Weil sie bewusst und scharf atmete, trat dieser Sinneseindruck für einen Moment stärker in den Vordergrund.
Wittern. Eine seltsame Form zur Aufklärung und Orientierung beizutragen. Geruch war oft so verkümmert bei Menschen. Und doch ein Sinn, dessen Erlebnisse sich tief einprägten und subtile Hinweise und Warnungen aus den Erinnerungen flochten.
Der Impuls den erwähnten Geruch festzustellen, kam schneller als die Augen verstanden, dass sie nicht weiter auf den zeigenden Finger starren sollten, sondern in die Richtung sehen sollten, in die er zeigte. Agnellina ließ das Huhn fallen und ging in die Richtung, die Bogdan wies.
Re: [1260] Schweigender Grund [Agnellina, Bogdan]
Verfasst: Mi Jul 30, 2025 6:23 pm
von Bogdan
Der kleine Apfelbaum trug noch kleine unreife Äpfel, die schlapp an ihm herunterhängen.
Lange war er noch nicht tot.
An der Oberseite des Stammes klaffte eine schmale Wunde.
In dem Riss fanden sich Rückstände eines dunklen Harzes – kühl, fast steinartig, mit kräuterig-saurer Note.
Auf der Unterseite des Stammes fand sie eingetrocknetes uraltes Blut.
Das sich dort gesammelt hatte.
Der Geruch stammte von dort.
Re: [1260] Schweigender Grund [Agnellina, Bogdan]
Verfasst: So Aug 03, 2025 2:47 pm
von Agnellina
Sie folgte dem Geruch wie ein Hund einer Fährte. Nur langsamer. Ihre Augen nahmen die Spuren ebenso wahr.
Umkreisend betrachtete sie den Baum und die Schäden. Kam näher.
Witterte.
Sah.
Fühlte dann mit vorsichtigen Fingern. Stupste das Harz erst vorsichtig an, ob es klebte, zwickte dann fester zu, brach etwas ab und roch daran.
Sie ging in die Hocke, fasste auch das Blut an, schnupperte an ihren Fingern.
Die Zungenspitze zwischen den Lippen. Angestrengtes Denken.
Die Finger kurz davor. Sie zögerte.
Tier war anderes als Mensch. War anders als...
Was war das?
Dann tippte sie mit dem Finger ganz vorsichtig an ihre Zunge, deren Spitze sich um die Fingerkuppe legte.