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Ein Sommernachtsgewitter

Verfasst: Do Jun 26, 2025 8:36 am
von Dietrich
Rittergut Gawrony - Hochsommer

Dietrich stand allein auf der Palisade seines Gutes, die Hände auf das trockene Holz gestützt, den Blick in die Weite gerichtet. Die erste Blitzgabel zuckte jenseits der Weichsel, ihr Nachhall kroch dumpf durch die Hügellandschaft. Wind strich ihm durch den Mantel – nicht wild, nicht zahm, nur lauernd. Die Welt war in Erwartung. Und er auch.

Er hatte diesen Moment gewählt. Mit Bedacht. Der Himmel war bereit. Der Regen wollte ohnehin fallen – Dietrich musste ihm nur einen letzten Schubs geben. Die Thaumaturgie – seine Disziplin – war kein Kinderspiel. Doch Potestas Tempestatum war mehr als ein bloßes Werkzeug: Es war ein Schlüssel zu den Elementen, ein stiller Vertrag mit der Natur.

Warum den Sturm heraufbeschwören, wenn einer sich bereits ankündigte? Warum den Himmel zwingen, wenn man ihn überzeugen konnte? Thaumaturgie war nicht nur ein Aufzwingen des Willens auf die Realität. Manchmal war es ein Verschlag, das Umleiten eines Baches der sowieso in einen neuen Lauf springen wollte.

Er zog einen Tropfen Blut aus seinem Daumen. Langsam. Respektvoll. Dann ließ er ihn fallen – nicht auf das Holz, sondern in die Luft. Er wusste, die Kraft des Wassers war nicht nur in Flüssen zu finden. Sie war überall. In der Luft, in der Haut der Menschen, im Atem der Erde. Ein Netzwerk, das auf Reaktion wartete.

Dietrich flüsterte keine Worte. Worte waren für Rituale, für Menschen. Dies war kein Ritual – dies war Einflussnahme. Lenkung. Mit jeder Faser seines Körpers ließ er zu: den Druck auf den Boden, das Knistern der ionisierten Luft, den Wunsch des Himmels zu regnen. Er trat nicht entgegen – er trat hinzu.

Und es begann.

Zuerst kaum spürbar. Ein gleichmäßiger Trommelschlag auf das hölzerne Dach des Getreidespeichers. Dann stärker. Die Tropfen wurden dicker, schwerer. Innerhalb weniger Herzschläge war der Hof in Schleier getaucht – nicht in Gewalt, sondern in Bestimmung. Staub wurde erst aufgewirbelt durch den Schauer, dann legte er sich und der Geruch des warmen Sommerregens legte sich über Gawrony.

Dietrich spürte den Schlamm, der in den Gräben vor dem Wall entstand. Spürte, wie der Regen sich in den Gruben sammelte, den Lehm aufweichte, die Wege unbrauchbar machte. Wenn ein Reiter jetzt käme, seine Pferde würden sinken. Wagen würden rutschen. Truppen würden stranden.

Er nickte stumm. Dies könnte man nutzen. Die Gräben welche den Männer zogen so noch schwerer zu überwinden machen. Pferde im Schlamm stecken bleiben lassen. Ein Bach mit anhaltendem Regen zu einem kaum überwindbaren Hindernis verwandeln.

Das ist Krieg ohne Waffen. Schlachtordnung in Wolken geschrieben.

Aber er dachte weiter – über das Töten hinaus. „Wenn man Gräben aufweichen kann, kann man Felder tränken.“

Regen war Leben. Wenn er die Felder vor dem Gut zur rechten Zeit tränken konnte, wenn er mit gezieltem Niederschlag Ernteausfälle abwenden konnte… dann würde seine Domäne blühen, während andere litten. Wasserkontrolle ist Kontrolle über Ernte. Und Ernte ist Kontrolle über Menschen.

Was, wenn die Gärten auf Gawrony nie vertrocknen?
Was, wenn die Mühlen der Nachbarn stillstehen – und meine weitermahlen?
Was, wenn ich nicht nur Sold, sondern Regen verteile?

Ein weiterer Blitz, direkt über dem Hof. Das Donnergrollen folgte sofort. Kein Zeichen des Zorns. Ein Gruß.

Dietrich lächelte nicht. Aber seine Schultern ruhten einen Hauch entspannter. Der Himmel hatte ihn nicht bekämpft. Er hatte ihn angenommen. Und das reichte ihm.

Er wusste: Noch war sein Einfluss begrenzt. Ein Regentanz, eine Windböe, Nebel. Doch jeder Schritt festigte seine Bindung. Die Thaumaturgie war kein Werkzeug wie ein Hammer – sie war ein Pakt. Und wie jeder Pakt verlangte sie Disziplin. Struktur. Blut.

Langsam trat er zurück vom Wall. Die Kapuze glitt über sein Gesicht, das Wasser rann an ihm herab wie an einem zerfurchten Denkmal. Heute hatte er nicht den Sturm entfesselt.

Heute hatte er dem Himmel geholfen, sich selbst zu erfüllen.

Er ging, ohne sich umzublicken, den hölzernen Wehrgang entlang in Richtung des Turmes. Dort, in seinem Schreibzimmer, wartete bereits ein Pergamentstreifen, noch unberührt, das Schreibzeug bereit. Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los.

Diese Erkenntnis durfte nicht in seinem Kopf allein verwehen wie Nebel. Sie gehörte zu einem Pfad – einem Weg durch das Verborgene, den andere nach ihm beschreiten würden. Seine Finger bewegten sich bereits, als sähen sie den Text voraus.

„Über die Anrufung des Regens: ein Kommentar zum Pfad der Sturmherrschaft.“

Er würde die Bedingungen, das Wetterverhalten, die geistige Haltung und die rituelle Zurückhaltung notieren. Und weiterführende Überlegungen: zur Verwendung bei Belagerung, zur Bewässerung landwirtschaftlicher Flächen, zur Kontrolle des Feuers durch Regen – und zur symbolischen Funktion von Wasser als Mittler zwischen Ordnung und Auflösung.

Natalia - dachte er beiläufig - sie würde dieses Werk, wenn es abgeschlossen war, sicherlich gern der Sammlung ihres Hauses hinzufügen.

Und das war gut so.

Denn Wissen war ebenfalls ein Element. Und wie Wasser, konnte es nähren oder ertränken. Aber in jedem Fall musste es gepflegt und seinen Platz in der Ordnung finden