Das Flüstern der Weichsel

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Bogdan
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Registriert: Fr Mai 16, 2025 2:14 pm

Das Flüstern der Weichsel

Beitrag von Bogdan »

Der Duft von Weihrauch lag schwer in der Luft.
Myrrhe mischte sich darunter – alt, fremd, vertraut.

Bogdan stand still in der schmalen Gasse.
Vor ihm das Haus.
Schief, schwankend, leise atmend wie ein Greis.
Das Holz war vom Alter geschwärzt, das Dach krumm,
als hätte es sich müde gegen die Nachbarn gelehnt.

Hinter dem Haus – die Weichsel.
Träge. Dunkel. Wach.

Er folgte dem verwitterten Pfad zur Anlegestelle.
Die Holztreppe knarzte.
Schilf wiegte sich im Wind.

Nikolai wartete schon.
Die gestreifte Katze strich um seine Beine,
der Schweif zuckte aufmerksam,
die gelben Augen auf das Wasser gerichtet,
als könnte er darin etwas lesen.

Bogdan ließ sich auf einen glatten Stein nieder.
Er legte einen kleinen, mit dem Messer geschnitzten Kahn neben sich.

Die Maserung des Holzes schimmerte matt.
Darin ein winziges Stück zusammengerolltes Leder,
mit Zeichen, die man hier kaum las.

„Ich war fünf“, sagte er leise.

Seine Stimme vermischte sich mit dem Plätschern des Flusses.

„Alt genug, um heimlich zu gehen. Dumm genug, es auch zu tun.“

Seine Stimme war leise, aber fest.

„Ich folgte einem Vogel. Schwarz. Ohne Laut.
Ich dachte, er wolle mir etwas zeigen.“


Seine Hand fuhr durchs Wasser,
spührte seinen sanften Widerstand.

„Er führte mich in einen Ring aus Farnen.
Der Wald war tief, alt.
Schwarz und still.
Und ich… verlor mich.“


Er lächelte.

„Er verschluckte mich.
Ich hatte kein Maß für Entfernungen.
Kein Maß für Angst.“


Das Wasser antwortete mit einem leisen
Plock
als ein Tropfen fiel –
nicht vom Himmel, sondern vom Nichts.
Ein unregelmäßiger Rhythmus begann,
fast wie ein ferner Takt.

Ein zweiter. Unregelmäßig.
Das Geräusch kam nicht vom Regen.
Sondern von irgendwo unter der Oberfläche.

Nikolai zuckte nicht.
Er kannte dieses Spiel.

Bogdan hob den Kopf, blinzelte.

„Ich hatte Angst. Aber ich erinnerte mich an die Worte meiner Babcia.“

Er sah Nikolai an, der starr aufs Wasser blickte.

„‚Der Wald liebt keine Rufe. Nur Schweigen. Und Lauschen.‘“

Nikolai zuckte.
Wellenmuster tanzten über die Oberfläche.

„Ich setzte mich auf einen Stein.
Und dann hörte ich es.“


Bogdan senkte die Stimme.

„Tok… tok… tok…“

Er klopfte leise mit dem Finger auf den Stein.

„Ein Geräusch. Tief. Nicht laut. Aber da.“

Er schloss die Augen.

„Wie ein Herz unter der Erde.
Ich ging darauf zu.
Und fand meinen Vater.
Er schlug Holz.
Im gleichen Takt.“


Ein Windstoß kräuselte die Oberfläche.
Kleine Kreise breiteten sich aus.
Nikolai saß am Rand, unbeweglich,
die Ohren gespitzt,
als lauschte auch er der Erinnerung.

„Seitdem glaube ich“, sagte Bogdan,
„dass Wahrheit leise kommt.
Und dass sie sich hören lässt, wenn man still genug ist.“


Dann nahm er den kleinen Kahn mit dem zusammengerollten Leder.

„Die Geschichte von Shahrzad und dem Affen mit dem goldenen Spiegel“,
murmelte er.

„Eine, die ich gehört habe. Nicht meine. Aber eine gute.“

Er setzte das Schiff ins Wasser.
Der Strom nahm es mit.
Es schaukelte leicht.
Trieb dann hinaus in die Dunkelheit.

Bogdan sah ihm nach.

„Meine Geschichten bleiben hier.
Die anderen… sollen fahren.“


Hinter ihm schnurrte Nikolai.
Vor ihm flüsterte die Weichsel.
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