[1259] Gute Nacht, Mariolka [Agnellina]

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Agnellina
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[1259] Gute Nacht, Mariolka [Agnellina]

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Mariolka.jpg
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Das Auge war tief violett. Eine gute Stelle Haar am Schopf ausgerissen. Die Spuren der Prügelei waren nicht zu übersehen. Der stolze Hundeführer hatte kaum etwas dazu zu sagen gehabt. Wie immer.

Jagna hingegen war wenig erbaut von ihrem Ziehkind.
Eine ganze Weile saß sie schweigend am Bettrand und betrachtete Mariolka.
Führte man das gleiche Gespräch nun zum wiederholten Male? Sollte sie erneut auf Ordnung und Erwartungen hinweisen? Auf ihre Forderung nach Selbstbeherrschung bei Provokation? Musste sie nun die Rute sprechen lassen, wenn Jaroslaw es doch wieder mit einem Feixen oder getrockneten Fleischstückchen als Leckerei belohnen würde, als wäre Mariolka ein balgender Hundewelpe?

Das Kind war unter seine Decke geschlüpft und harrte in der Ungewissheit, wie sich die Nacht gestalten würde. Eine aufregende gemeinsame Jagd oder eine hübsche Geschichte, bei der sie einschlummern sollte? Jagna holte sie manchmal aus dem Bett und manchmal kam sie nur für ein Gespräch. Dann wieder war die Herrin längere Zeit abwesend und das Getuschel unter den Bediensteten ging wieder los und trieb Blüten, wie sich die Verbindung zwischen dem jähzornigen Hundeführer und der Jägerin entspann. Dass sie oft vor seiner Grobheit in die Wälder floh. Dass das arme Kind - sie, Mariolka - wie ein Hund verwahrlosen und bissig werden würde. Wie wenig Ahnung die anderen doch hatten und wie wenig sie von Freiheit und dem Zusammenhalt der Meute wussten.
Mariolka hatte Jagna und Jaroslaw noch nie streiten gehört. Geschweige denn, dass der raue Hundeführer die Hand gegen seine Frau erhob. Das schien er nicht zu wagen. Er trat ihr mit einem eigentümlichen Respekt entgegen. Sie war frei und unabhängig. Das wollte sie auch sein. Wehrhaft, frei und

„Komm mit mir.“

Die Stimme unterbrach die Gedanken des Mädchens. Sie schlüpfte unter der Decke hervor und griff nach ihrem Kleid.

„Komm jetzt, brauchst dich nicht umziehen. Wir gehen nicht weit. Nimm das Licht mit.“

Jagna schien nie zu frieren. Mariolka griff sich ihr Betttuch und schlug es um, während sie mit schnellen Schritten barfuß folgte. Das Nachtlicht trug sie vorsichtig mit sich.
Sie verließen die Räumlichkeiten und gingen hinaus in den Zwinger.

Der Garten lag in Dunkelheit und die Vogelscheuche - der dreigesichtige Pfahl ragte mitten darin auf. Jagna führte das Mädchen zur Mauer in diesem Garten und wies sie auf eine unscheinbare Stelle.

„Siehst du diese Stelle hier in der Wand? Sieh sie dir genau an.“

Mariolka ließ das Licht gehorsam auf die großen Mauersteine der Zwingerwand fallen. Sie versuchte zu erkennen, was an dieser Stelle anders sein sollte.
Derweil drang die Stimme Jagnas ruhig in ihr Ohr.

„An dieser Stelle im Gemäuer ist ein Kind eingemauert.“

Mariolka zuckte überrascht zurück und wandte sich um. Jagnas dunkle Augen ruhten auf ihr.

„Sieh nur genau hin. Es ist lange her. Mehr als drei Menschenleben. Vor deiner Zeit und vor meiner. Das Kind wurde in die Mauer gesetzt und eingemauert. Dort, hinter diese Steine.“

Das Mädchen folgte dem zeigenden Finger und versuchte mit dem Lichtschein zu erkennen, welche Steine genau gemeint waren.

„Das Kind war drei Jahre alt und seine Mutter war es leid. Sie beschloss, es an die Herrin dieser Burg zu verkaufen, die damals hier wohnte. Die Szlachta besah sich das Kind und zählte drei dunkle Denare ab. Sie fragte die Mutter, ob sie es sich wirklich gut überlegt hatte, das Kind zu verkaufen. Die Mutter griff gleich nach den Münzen und die edle Dame gab der Mutter eine kräftige Maulschelle für die Übereifrigkeit wie zur Besiegelung des Handelns gleichermaßen.
Dann nahm sie das Kind, führte es hier hinaus und setzte es in die Mauer. Sie gab ihm eine frische Semmel in die Hand. Dann begann man zu mauern. Das Kind aß dabei sein Semmelchen. Zuletzt war da nur noch ein kleines Guckloch in der Mauer. Gerade als man den letzten schweren Stein davor in die Mauer setzen wollte, da hatte es seine Semmel aufgegessen. Und wie dieser letzte schwere Stein ins Loch glitt, da hörte man es sagen: „Mama weg. Semmel weg. Guckloch weg.“ Dann war die Mauer fertig.“

Jagna wandte sich mit dem Ende der Geschichte ab und ging. Mariolka würde den Weg allein zurück in ihr Bett finden. Oder in die nächste Rauferei. Aber bei so einer Burg wurde ja beständig an den Mauern und Verteidigungsanlagen gebaut. Besonders zur Zeit.