Das Kind

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Das Kind

von Jaromir der Henker » Mi Sep 10, 2025 8:43 am

Der Schnitt

Sandomierz, Frühjahr 1239.

Die Glocke schlug neunmal, dumpf, hohl, über dem Marktplatz. Die Menge sammelte sich, so wie sie es häufig tat, wenn Blut vergossen werden sollte. Kinder standen auf den Zehenspitzen, Mütter hielten Tücher vor die Gesichter, Männer riefen laut nach Gerechtigkeit.

Jaromir trug die schwarze Kapuze noch nicht. Seine Schultern waren breit, die Arme von jahrelanger Arbeit hart wie Eichenholz. In der Hand hielt er die Axt – nicht blank, nicht neu, sondern stumpf vom Wetter, mit einer Schneide, die er selbst vor wenigen Stunden geschärft hatte.

Der Verurteilte kniete. Ein Bauer, mager, die Hände auf dem Rücken gefesselt, das Hemd zerrissen. Man hatte ihn des Diebstahls schuldig gesprochen – Korn, hieß es, aus der Scheune seines Herren. Korn, um die Familie über den Winter zu bringen. Jaromir wusste das. Er wusste auch, dass die Ratsleute kein Erbarmen kannten.

Die Augen des Mannes waren fest. Nicht flehend, nicht trotzig – nur fest.
Hinter ihm, am Rand der Menge, stand ein kleiner Junge. Vielleicht acht Jahre. Dünn wie ein Zweig, mit großen, dunklen Augen. Er sah nicht auf den Vater. Er sah auf Jaromir.

Das Beil schwang.
Es war schnell, routiniert. Ein dumpfer Schlag, ein Raunen in der Menge, ein Aufschrei irgendwo hinten. Blut färbte das Stroh.

Jaromir spürte den Blick des Jungen, als er die Klinge zurückzog. Schwarz, tief, unbeweglich. Ein Blick, der nicht wich.

Das Kind

In den Wochen nach der Hinrichtung kehrte der Alltag zurück – oder schien es zumindest. Jaromir tat seine Arbeit, wie er sie immer getan hatte. Seile flicken, Axt schleifen, Stricke knüpfen. Der Rat ließ richten, Jaromir vollstreckte.

Doch in der Nacht begann es.

Zuerst war es ein Traum. Ein Hof, leer, unter grauem Himmel. Das Kornfeld schwarz und verdorrt. Am Brunnen stand der Junge. Er sprach kein Wort. Er sah ihn nur an.

Jaromir erwachte schweißnass, den Geschmack von Eisen im Mund, als hätte er im Schlaf Blut getrunken. Er sprach nicht darüber. Auch nicht, als der Traum wiederkehrte. Und wieder.

Bald begann er, den Jungen auch im Wachsein zu sehen. Immer nur im Dunkeln, wenn die Fackeln verlöschten oder wenn die Sonne kaum noch das Pflaster der Gassen erreichte. Ein kleiner Schatten, schmal, unbeweglich, am Rand seines Blickes. Und wenn Jaromir sich drehte, war er fort.

Doch die Augen blieben.
Die Augen, schwarz und unbeirrbar, wie damals am Richtplatz.

Manchmal hörte er auch ein Geräusch.
Das Knarren eines leeren Bauchs.
Ein leises Schluchzen, das nicht verklang.
Ein Wispern, kaum hörbar: „Warum Vater? Warum wir?“

Jaromir begann weniger zu schlafen. Er mied das Bett, mied die Ruhe, mied alles, was Dunkelheit erlaubte. Doch es half nichts. Denn jedes Mal, wenn die Kerze erlosch, sah er im Augenwinkel einen Schatten.

Die Nacht ohne Ende

Als Jaromir Jahre später den Kuss empfing dachte er, der Hunger, das Blut, die neue Dunkelheit würden alles überlagern. Und das taten sie. Für eine Weile.

Doch mit der Gabe des Kusses kam auch etwas anderes: Seine Sicht in der Schwärze klärte sich.
Jaromir brauchte kein Licht mehr, um zu sehen. Und in der ersten Nacht, als er seine neuen Augen wirklich öffnete, stand er wieder da.

Der Junge.
Schmal, bleich, halb durchsichtig, als wäre er nur aus Nebel gebaut.
Doch die Augen – die waren klar. Schwarz und weit und voller Vorwurf.

Jaromir erstarrte. Ein untoter Koloss, dessen Herz längst nicht mehr schlug, doch das Bild schnürte ihm die Kehle zu.

„Ich verhungere“, sagte der Junge. Die Stimme war nicht laut, sie war nah, direkt am Ohr.
„Weil du ihn mir genommen hast.“

Jaromir wollte den Blick abwenden, konnte es nicht.
„Du richtest, sagst du,“ fuhr die Stimme fort, „aber wer richtet dich?“

Seither war der Junge da.
In Träumen, in Schatten, in jeder Nacht, wenn kein Licht mehr brannte. Er sprach nicht immer, aber er sah immer. Unbestechlich, unbeirrbar. Ein stiller Richter, der Jaromir folgte, gleich ob er in Krakau, Breslau oder auf einem verfallenen Hof nächtigte.

Und Jaromir wusste:
Er hatte den Vater hingerichtet.
Aber der Sohn – der Sohn würde ihn bis ans Ende aller Nächte richten.

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